Résumé

2011 wurde in Deutschland das erste nationale Förderungsnetz der Bundeskulturstiftung für den Tanz, der Tanzplan Deutschland, durch zwei Nachfolgeprojekte abgelöst, von denen eins sich dem Erbe des modernen Tanzes in Deutschland widmet. Seit dem fördert der Tanzfonds Erbe explizit Projekte zeitgenössischer Choreographen und etablierter deutscher Kompanien an Theatern, die sich in einer zumeist kritischen Auseinandersetzung mit dem tänzerischen Erbe auseinandersetzen und in unterschiedlichsten Formaten dem Publikum zugänglich machen. Diese Institutionalisierung eines Phänomens, dass sich seit dem Beginn der 2000er Jahre deutlich zeigte und mit einer generellen Befragung nicht nur der Tanzgeschichte, sondern von Autorschaft und Schaffensprozessen in der zeitgenössischen Tanzszene auseinandersetzte, kann daher sowohl in der Wissenschaft als auch in der Praxis als eine wichtiges Phänomen der deutschen Tanzlandschaft in der letzten Dekade gewertet werden. Rekonstruktion und Tanzgeschichte sind mittlerweile nicht nur Felder für Spezialisten, sondern zu einer einflussreichen künstlerischen Inspirationsquelle geworden. Dieser Beitrag möchte daher zunächst theoretische Prämissen dieser Entwicklung nachzeichnen. Wie lässt sich der Trend mit der Tanzgeschichte verstehen, welches Verständnis von Tanzgeschichte und Rekonstruktion ist darin virulent, welche choreographischen Strategien resultieren aus solch einer performativen Tanzgeschichte? Dies wird in einem ersten Schritt anhand exemplarischer Choreographen und Choreographinnen, die in den letzten Jahrzehnt prägend für die deutsche Tanzszene in diesem Bereich waren (u.a. Martin Nachbar, Eszter Salamon, Jerome Bel) diskutiert.  Diese Künstler hinterfragen die Aneignungsprozesse und stellen deren Produktions­mechanismen aus. Ihnen geht es dabei nicht darum, eine genaue Version des Vergangen abzubilden, sondern im Prozess der Aneignung, die Ver­schiebung und Differenz sichtbar zu machen und die Reflexion der ästhetischen Kon­ven­tionen in den Mittelpunkt künstlerischen Schaffens zu stellen. Vergangenheit ist hier nicht statisch zu denken, als könnte man sie in Archiven unhintergehbar auffinden, sondern das Erinnern steht im Mittelpunkt und wird als performativer Prozess begriffen, „der seinen Gegenstand konstituiert, inszeniert, re-inszeniert und dabei ständig modifiziert und in dessen Verlauf immer wieder neue Modelle und Medien des Erinnerns hervorgebracht werden." Die Parallelen zu einer kritischen Historiographie wie sie Michel de Certeau, Michel Foucault oder Hayden White vertreten, werden hier auffällig. Damit überbrücken diese zeitgenössischen Performances die Grenzen zwischen Praxis und Wissenschaft. Mehr noch, sie fordern uns dazu auf, Definitionen und Möglichkeiten des Zitierens, Re/konstruierens und Archivierens zu überdenken. In einem zweiten Schritt wird dann genauer nach den tanzhistorischen Narrative und Authentifizierungsstrategien gefragt, die sowohl die künstlerischen Produktionen als auch das tanzwissenschaftliche Feld in Deutschland im Zuge dieser Entwicklung konturieren und somit neben Förderinstitutionen auch ein weiterer institutioneller Rahmen dieser Entwicklung beleuchtet.  

 

Literatur:

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Tanz in Deutschland wir daher keinesfalls als ein Produkt allein deutscher Künstler begriffen.

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