Résumé

In einer Szene zu Beginn von William Forsythes Stück Decreation (2003) hält die Tänzerin Dana Caspersen eine Rede. Während sie englische Worte regelrecht in den Raum hinausspuckt, ziehen die Hände zur gleichen Zeit an ihrem T-Shirt. Dabei wirken diese wie Fremdkörper, die an der Oberbekleidung zupfen und dehnen. Nicht der Körper selbst scheint mehr der Initiator der Bewegungen zu sein, vielmehr ergeben sich diese als Impulse von außen, denen die Darstellerin zu folgen gezwungen ist. Nahezu leitmotivisch winden sich jene disjunktivierenden Zug- und Reißsequenzen durch das gesamte Stück und entmächtigen den Körper in seiner Rolle des ‚Bewegers'. So zum Beispiel in einer Szene, in der der Tänzer Christopher Roman mit einer Männergruppe im Kreis sitzt und sich unterhält. Zunehmend kommt es zu destabilisierenden Motionen, ausgelöst durch die umgebende Garderobe sowie zu Verzerrungen des sprechenden Mundes, dessen Lippen sich verziehenden und verschieben, als wollten sie den sinnbildenden Konsonanten im verhinderten Mundschluss ausweichen. Die Bewegungen verlagern sich allmählich in die Peripherie, an die äußeren Ränder des Mundes und lassen in ihrer Vehemenz und Wucht den Kopf nach hinten oder zur Seite kippen.

Die für Forsythes Verfahren vielfach festgestellte Multiplikation und Dissemination der Bewegungs­zentren etwa vom Solarplexus in die Extremitäten verlagert sich in Decreation nun weiter in die äußersten Winkel des Körpers beziehungsweise in das Beiwerk der Kleidung hinein. Die Bewegungen scheinen gar vom Stoff initiiert und zwingen den Körper in Torsionen und Ausweich­bewegungen. Formuliert Forsythe im Rahmen seiner Improvisation Technologies das Ideal reaktiver Tänzer, die Bewegungen nicht gezielt formen, sondern „es dem Körper überlassen [sollen], Dich zu tanzen", überhöht er in Decreation dieses Prinzip: Der Körper veräußert seine verstreuten Zentren an die Kleidung. Mithin bewegt anscheinend nicht mehr der Körper die Tänzer, sondern das umgebende Rahmenwerk die Körper.

Die Tanzwissenschaftlerin Sabine Huschka formuliert das Sich-Bewegen als wesentliches Merkmal von Subjektivierung: Das Subjekt biete sich als ein solches im Initiieren von Bewegung dar. Zugleich ist im zeitgenössischen Tanz die Faszination und das beständige Arbeiten am Kontrollverlust in der Bewegung präsent, so etwa in den Choreographien Meg Stuarts. In Forsythes Decreation kommt es nun zu Oszillationen zwischen dem Körper als Impulsgeber und dem Beiwerk, das sich verselbstständigt, eine Spaltung zwischen bewegt werden und sich bewegen, in einer heuristisch verstandenen Trennung mithin zwischen Subjekt und Objekt.

Zurückblickend auf Forsythes obige Aussage ergibt sich entsprechend eine doppelte Verfasstheit des Körpers: Als Objekt, als Instrumentarium von Bewegung, das „dich tanzt" – und hier allerdings gleichsam eine cartesianische Kehrtwende vollzieht, denn was wäre dann das „dich", das hier bewegt wird, wenn es nicht mehr das Subjekt ist, welches die Bewegung allererst auslöst? Folglich generiert sich der Körper selbst als Subjekt, als Initiator von Bewegung – Huschka betont entsprechend, dass der Körper (im Tanz) zugleich „Objekt und Subjekt“ der Darstellung sei. Folgt man dieser doppelten Wendung, bedeutet dies in letzter Konsequenz, dass dann der Körper den Körper tanzt. Ist dieser also tanzend selbst-reflexiv oder vielmehr selbst-vergessen, im „dich“ tanzen, das die Überwindung einer rationalen Instanz nahezulegen scheint? Im Anschluss sollen jene Wechselspiele zwischen Subjekt und Objekt anhand einer aktuelle Inszenierung aus dem zeitgenössischen Tanz nachvollzogen werden.

 

Verhüllte Entschälungen

In Unturtled, eine seit dem Jahr 2009 fortlaufende Kooperation der Berliner Choreographin Isabelle Schad und des bildenden Künstlers Laurent Goldring (Paris), erscheint die Silhouette der Tänzerin Schad in fortwährenden Dehnungen und Schrumpfungen, Plusterungen und Blähungen begriffen. Provoziert durch ein übergroßes Hemd, das die Hände verbirgt, und eine ebensolche Hose, aus der die Füße bisweilen wie dünnen Fäden herausragen, schwankt ihr Körper beständig zwischen Verhüllungen und Entschälungen, zwischen Unkenntlichkeit und physisch unwahrscheinlichen Formen, denen nur der Kopf immer wieder zu entkommen scheint. (Abb. 1) Es entstehen Eindrücke einer unzusammengehörigen Anatomie, etwa wenn die Arme in den Weiten des Hemdes verborgen sind und sich (für das Zuschauerauge unsichtbar) in Richtung Schulter schieben, so dass diese mit einem Mal wie ein drittes, monströses Organ aus den Falten des Hemdes herauszuwuchern scheint.

Im Verlaufe der Aufführung entsteht der Eindruck, die Kleidung der Darstellerin führe ein Eigenleben und löse abgekoppelt von den Motionen ihrer Trägerin die Bewegungen nun ‚eigenverantwortlich' aus. Hinzu gesellen sich irritierende Sensationen, als wachse unter den umgebenden Stoffhüllen eine Art extrakorporales Wesen heran. Sind über weite Strecken des Stücks die Körperformen der Tänzerin noch für kurze Augenblicke erkennbar, so wandeln sie sich im letzten Drittel der Aufführung in zunehmend amöbenhafte Gestaltungen, denen kaum noch anthropomorphe Gliederungen zuzuordnen sind. (Abb. 2)

Auch die theatrale Situation als solche wird aufgebrochen: Das Stück folgt keiner erkennbaren bewegungsmotivischen oder narrativen Dramaturgie, vielmehr wandelt sich der Körper von einem metamorphen Tableau zum nächsten. Dieses nachgerade bewegungsbildliche Moment wird durch die Anordnung des Settings noch verstärkt: Gänzlich in weiß ausgekleidet, mit einer seitlich links und nach hinten begrenzenden Wand wirkt das Bühnenbild eher wie der Ausstellungsraum einer Galerie, in der sich das fluide Geschehen vor den Augen einer staunenden Anzahl von Zuschauer/innen ereignet. In Unturtled zeigen sich Entkopplungsbewegungen in mehrfacher Hinsicht, wobei nachfolgend die phänomenologische und die mediale Perspektive genauer betrachtet werden.

 

Entkopplungen von Subjekt und Objekt der Bewegung

Als eine Signatur des zeitgenössischen Tanzes durchzieht nicht nur Isabelle Schads Arbeiten die Erforschung der Materialität des Körpers im Tanz, im Sinne der Frage: „Was ist es, das sich bewegt?“. Spaltungs- und Fusionserscheinungen zwischen dem Körper als Sub- und Objekt zeigen sich unter anderem in Xavier Le Roys mittlerweile schon als Schlüsselstück geltenden Self unfinished (1998). Die Filmwissenschaftlerin Vivien Sobchack greift ähnliche Tendenzen im Film auf, indem sie auf dessen Materialität fokussiert. In ihrem Buch Carnal Thoughts beruft sie sich zunächst auf Maurice Merleau-Pontys Konzept der Intersubjektivität, das das intentionale, handelnde Subjekt im Sinne eines in-der-Welt-Seins in den Mittelpunkt rückt. Sobchack stellt sich auf dieser Basis jedoch die Frage, wie es dann möglich ist, etwas als (nicht intentional seiendes) Objekt grundsätzlich wahrzunehmen, im Sinne einer Faszination am eigenen Körper als materieller und zugleich empfindender ‚Gegenstand'. Merleau-Ponty löst diesen Zwiespalt mit der Metapher des Fleisches, als Medium des leiblichen Eingebundenseins mit der Welt, als kommunizierende Stofflichkeit zwischen Subjekt und Objekt. Allerdings ist hierin nicht unbedingt die Möglichkeit einbezogen, sich selbst als Objekt zu erfahren, als Material im Sinne eines „Körperding[es]“ zu empfinden, wie dies jedoch viele Arbeiten im zeitgenössischen Tanz nahelegen. Die anthropozentrische Perspektive eines handelnden Subjekts verwerfend, entwickelt Sobchack folglich die Idee einer „interobjectivity“, die allerdings, so das Paradox, nur aus dem eigenen Blick heraus, als Subjekt erfahrbar sei – eine mithin phänomenologische Grundkonstante, die auch sie nicht verwirft. Vielmehr geht es ihr um eine Verschiebung der Perspektive:

 

„[…] we never really sense a nonintentional ‚thing‘ existing in the world as an object in-itself but rather sense its real and present presence as in excess of our comprehension and as being for-itself. […] this kind of subjectification takes up the object's excess objectivity as opacity and its inertia as somehow a refusal to judgement.“

 

Sobchack plädiert schließlich für eine negative Perspektive des Subjektiven: Das Objekt verhalte sich als „negative Relation“ zum Körpersubjekt, ein Verhältnis, das sich besonders in Momenten der Entfremdung und der Erfahrung von Alterität zeige.

Allerdings hat Merleau-Ponty durchaus keinen solch eindimensional auf Handlung fixierten Subjektbegriff, wie es sich in Sobchacks Lesart andeutet. Das französische „sujet“ verweist vielmehr auf etwas, das im Werden begriffen ist und erst (noch) eine Gestaltung erfährt. Zwar betont der Philosoph Bernhard Waldenfels in seiner Lektüre Merleau-Pontys die intentionale Komponente dieses Zustands, im Sinne eines gestaltenden sich-auf-etwas-hin-Entwerfens. Merleau-Ponty selbst jedoch setzt vor die Intentionalität das Empfinden, postuliert im „Primat der Wahrnehmung“. Das empfindlich sein für Eindrücke – etwa für Farbe – trägt folglich die Tendenz des A-Personalen in sich – vor jeder Entscheidung, zum Beispiel etwas als etwas sehen zu wollen:

 

„Wollte ich […] die Wahrnehmungserfahrung in aller Strenge zum Ausdruck bringen, so müsste ich sagen, dass man in mir wahrnimmt, nicht, dass ich wahrnehme. Jede Empfindung trägt in sich den Keim eines Traumes und einer Entpersönlichung: wir erleben es an dem Betäubungszustand, in den wir geraten, wenn wir uns gänzlich einem Empfinden überlassen.“

 

Bezogen auf das Stück Unturtled ließe sich die Merleau-Pontysche Rede vom Empfinden paraphrasieren als „dass man sich in mir bewegt“, ein Etwas, das „dich bewegt“, wie William Forsythe es ausdrückt. In Schads und Goldrings Stück entsteht ein Taumel zwischen dem Tänzerinnenkörper, der scheinbar von außen, von der Kleidung, von unbelebten Objekten her bewegt wird, und dem sich immer wieder hinein schiebenden (rezeptiven) Wissen, dass dieser Körper sich doch selbst bewegt, amorphe Formen entwirft und sogleich wieder verwirft. So entstehen oszillierende Sensationen als Inversionsbewegungen zwischen einem autonomen, sich bewegenden Objekt – der Kleidung – und dem bewegt werdenden Subjekt, das dadurch einen temporären Objektstatus erhält.

Formuliert nun Merleau-Ponty einen Dualismus, der bereits im eigenen Leib beginnt und sich über einen „Weltbezug“ und einen „Selbstbezug“ desselben bestimmt – als Umschlagort und vermittelnde Instanz ein „ontologische[s] Relief“ bildend, das zwischen den zwei „Blattseiten“ des Leibes changiert –, so könnte diese ontologische Bestimmung des Leibes im vorliegenden Fall auch auf das Subjekt selbst ausgedehnt werden, das, Bewegungen unterworfen, für Momente nicht mehr ‚Herr im eigenen Hause‘, nicht mehr Kontrolleur/in der physischen Regungen zu sein scheint.

Ein Anhalts-Punkt hierfür sind zum Beispiel die mit Wasser gefüllten, halb durchsichtigen Gummihandschuhe, die wie leblose, fühllose ‚Dinger‘ aus den Ärmeln von Schads Hemd herausbaumeln – im Grunde nutzlos, da buchstäblich nicht handelnd. Darüber hinaus ist der immer wieder erscheinende Kopf Schads ein (identifizierender) markierender Pol im Schwanken der sub- und objektiven Positionen. Er gibt der scheinbar willkürlichen Metamorphosen unterworfenen Tänzerin immer wieder ein Gesicht, das Rückschlüsse auf ein entwerfendes Subjekt zu geben vermag. Zugleich zeigt sich jedoch der Körper bisweilen als ‚bloßes‘ Medium entkoppelter Bewegungen, ein nicht zuletzt visueller Aspekt, der besonders durch die Zusammenarbeit mit dem bilden Künstler Laurent Goldring Bedeutung erhält.

 

Mediale Entkopplungen

Folgt man Huschkas Annahme, so ist der Körper als Bewegungsmedium immer durch seine Dopplung bestimmt: als Motor von Bewegung einerseits und andererseits als bewegt werdender Organismus. In Unturtled ergibt sich jedoch phasenweise der Eindruck, als sei der Tänzerinnenkörper zumindest visuell nahezu gelöscht: in Bewegung subsumiert, die sich wiederum auf die Kleidung als Bewegungsvermittler und als Körper im Sinne eines (extensiven) Volumens übertragen, im Zwischenraum von Bewegungsinitiation und Dinghaftigkeit. Jenes Körper-Kleid-Gebilde fungiert mithin buchstäblich als Medium, als Überträger von Bewegung an ein gerahmtes (Bühnen-)Außen. Diese Medienperspektive wird befördert durch das Setting, das – durch die offen gelassene Seite unfertig wirkend –, gleich einem Zwitter zwischen Bühne und Galerie auf die de-figurierten Körper-Bilder verweist, die im Verlaufe der Aufführungen gleichermaßen performt wie ausgestellt werden, für Momente in unerkennbaren Figurationen still gestellt, um sich gleich darauf wieder zu verflüssigen. Es entstehen Pattern des Amorphen, Musterungen des Unfertigen, wie sie für den Tanz seit einigen Jahren nahezu stilbildend sind, so etwa die Körpermetamorphosen Xavier Le Roys in Self unfinished. Sie stehen mittlerweile für eine spezifische Art und Weise metamorpher Körperpraktiken, mit denen Körpergrenzen überschritten werden, und zeigen sich in De/Figurationen wie etwa transformierende Torsi, Körperverdoppelungen und -fusionen sowie verschiedenste Motive von Körperöffnungen.

Schad thematisiert in ihrem Stück gemeinsam mit Goldring die Bildhaftigkeit solcher Körper, derer sich diese mithin auch in zeitgenössischen Produktionen nicht zu entziehen vermögen. Dies liegt besonders in der Arbeitsweise des Künstlerduos begründet, die einem besonderen Produktionsprozess unterliegt. Während der Proben verblieb Goldring ausschließlich in der Perspektive des durch die Kamera blickenden und anschließend kommentierenden Beobachters, während Schad sich auf der Bühne des Probenraums bewegte und lediglich über die verbalen Einwürfe Goldrings Bewegungen veränderte, ohne sie visuell, etwa durch ein spiegelndes Gegenüber, abzugleichen. So kommt es zunächst zu einer gezielten Trennung im Rahmen des Probenprozesses selbst, der sich hierbei in eine rezipierende und eine produzierende Ebene aufspaltet: Jene des kommentierenden Blicks, durch Kameraauge und Sprache, sowie des sich bewegenden und aufnehmenden Körpers. Damit wird zunächst anscheinend ein tradiertes Schema wieder aufgegriffen: Der Blick des männlichen Choreographen, der die ausführende Tänzerin lenkt und korrigiert ­– eine Praxis, die der zeitgenössische Tanz, nicht zuletzt mit Rückgriff auf die Judson Church Bewegung der 1960er Jahre, an und für sich vehement ablehnt.

Schad unterwandert jedoch zugleich die nach außen hin autokratische Ebene des männlichen Blicks, indem sie nicht den Vorgaben räumlicher oder durch Tanztechnik induzierter Choreographie folgt, sondern das Body-Mind Centering (BMC) nutzt, eine Praxis, die üblicherweise nicht für die Bühne verwendet wird, sondern Bewegungen aus dem Körperinneren heraus generiert und sich an imaginären Bildern orientiert, die beispielsweise dem Fluss der Lymphe im Körper oder dem Verlauf der Knochen folgen und entsprechende Bewegungen verursachen. BMC ist mithin dem visuellen Primat des Balletts und dessen Bewegungsgenerierung über äußere Bilder diametral entgegengesetzt, ebenso seinen räumlichen Anordnungen und der Formung der Körpersilhouette, die beständig im Spiegel überprüft und korrigiert wird. Nicht zuletzt deshalb erscheint BMC seit einigen Jahren als Gegenentwurf auf zeitgenössischen Tanzbühnen in Europa. Schad wiederum unterwandert durch das BMC die Ebene des Bildkommentars durch Goldring. Ihr sich-Bewegen und Empfinden ähnelt dem Zustand der Betäubung, wie Merleau-Ponty ihn formuliert: eine „Entpersönlichung“, die sich „gänzlich einem Empfinden“ überlässt – das gleichwohl nur ein temporärer Zustand sein kann, wie mit dem Erscheinen des Gesicht der Tänzerin bereits betont worden ist.

Isabelle Schad setzt sich zudem seit einiger Zeit mit der Kritik an Spektakel und Repräsentation auseinander, wie sie Guy Debord formuliert hat. Das sich künstlerische selbst-Versichern über das Bild-Sein eines virtuosen Körpers etwa im Ballett, wie es die Tanzavantgarde seit den 1960er Jahren verwirft, ist zwar auch Bestandteil der Auseinadersetzungen ihrer Stücke. Zugleich jedoch entwerfen sich durch das Body-Mind Centering innere Bilder, die als Eindrücke des Amorphen im Wechselspiel von Körper und Kleidung nach außen, ins visuelle Feld des Publikums, transportiert werden. Über die Rahmung der Galerie/Bühne entstehen temporäre Bilder, die beständig de- und rekomponiert werden und in denen sich die Tänzerin wiederum als buchstäbliches Ausstellungs-Stück beständig selbst als volatile Skulptur formt und deformiert.

Unturtled vollzieht folglich eine gezielte Spaltung: Zwischen dem Körper als Kameraobjekt und dem Körper als selbstermächtigter Impulsgeber der Bewegung – die sich allerdings zugleich in dessen geweblicher Binnenebene wie auch im gedanklich Imaginären abspielt: jenem der Tänzerin, die Bilder fluider Bewegungen in das körperlich sichtbare Außen trägt wie auch das des Publikums, das die Tänzerin über weite Strecken als metamorph-anthropologisches Gebilde wahrnimmt und je eigene, persönliche Vexierbilder kreiert. Folgt man Dieter Merschs Postulat einer „negative[n] Medientheorie“, wonach sich das Medium als Vermittelndes an sich nur in der Störung zeige – etwa im Rauschen des Radios –, wird hier die Negation noch weiter getrieben: In der zeitweise (visuellen) Löschung des Körpers, der seine ‚Aufgabe‘ als Bewegungsvermittler an seine stoffliche Umgebung abgegeben hat.

 

Unturtled ist insofern auch der darstellerische Versuch einer heuristischen Trennung des Körpers in Subjekt und Objekt. Zeitweise kommt es zur Übergabe eines handelnden, sich bewegenden Leibes an das umgebenden Beiwerk, wobei die Recherche ergeben hat, dass es sich hierbei nicht nur um ein rezeptiv wahrgenommenes Phänomen handelt, sondern dies im Kreationsprozess bereits gezielt herausgefordert worden ist. Allein der Störfaktor Kopf, das sichtbare Gesicht der Tänzerin schiebt bisweilen die Persona in den Vordergrund, weist Schad als ‚Mit-Autorin‘ der (eigenen) Bewegungen aus. Die so entstehenden Pendelbewegungen des zuschauenden Blicks verdeutlichen die doppelte Verfasstheit des Körpers: als bewegtes Ding und Quelle der Motionen zugleich.

Slavoj Žižek betont in seinen Ausführungen zu Interaktivität und Interpassivität, dass dem Subjekt-Sein auch ein gewisser Wahrnehmungsglaube innewohne, der sich immer schon an ein Anderes veräußert habe – er führt dies etwa anhand des (Marxschen) Fetischcharakters von Waren aus, die eine ‚Persönlichkeit‘ zu haben scheinen, obwohl wir doch um ihre Dinghaftigkeit wüssten. In ähnlicher Weise entkoppelt er auch den Modus des Performativen von seiner Handlungszentiertheit, unter anderem anhand des Beispiels buddhistischer Gebetsmühlen, die das Beten für einen selbst übernähmen: „Darin liegt das Paradox des Begriffs der ‚Performativität‘ oder des Sprechaktes: gerade in der Ausführung einer Handlung durch das Äußern von Worten werde ich meiner Autorschaft enteignet, der ‚große Andere‘ (die symbolische Institution) spricht durch mich.“

Schad und Goldring wiederum stellen die Hervorbringung von Bewegung im Sinne von Selbstermächtigung und Agency in Frage und verweisen mithin auf den gefährdeten Status des Subjekts als solchem. Das Subjekt-Werden wird als fortdauernder Prozess buchstäblich ausgestellt, der sich jedoch nicht nur in De-Figurationen ergibt, sondern jene bereits als Bildlichkeiten und Markierungen des zeitgenössischen Tanzes ausweist. Unturtled vollzieht das Herstellen und Verwerfen eines wahrnehmend un/wahrscheinlichen Körpers, jedoch ist nicht nur das Subjekt-Werden beständigen Wandlungen unterzogen, sondern – und das ist mit Sobchack gesprochen die Pointe des Stücks – auch das Körper-Ding selbst zeigt sich als ein Unabgeschlossenes. Phasenweise wird die Tänzerin Isabelle Schad zum Objekt der eigenen Wahrnehmung und untersucht präzise, wie wir als Körper-Ding wahrnehmen und wie sich mithin der Körper als Mittler zwischen Subjekt und Objekt konstituiert.

 

Literaturverzeichnis

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Mersch, Dieter: „Medialität und Undarstellbarkeit. Einleitung in eine ‚negative‘ Medientheorie“, in: S. Krämer (Hg.): Performativität und Medialität, München: Fink, 2004, 75-95.

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Vgl. Gilpin/Baudoin 2004: 119 sowie Brandstetter 1997: 619, Evert 2003: 124, Siegmund 2006: 261.

Forsythe/Haffner 2003: 27.

Vgl. auch Foellmer 2009: 403.

Huschka 2002: 24.

Ebd.: 26.

Vgl. Foellmer 2009: 12.

Sobchack 2004: 311.

Merleau-Ponty 1966: 106.

Sobchack 2004: 310.

Merleau-Ponty 1986: 178.

Bernhard Waldenfels unterscheidet heuristisch zwischen dem „fungierenden Leib“ und dem „Körperding“. Waldenfels 2000: 15.

Sobchack 2004: 316.

Ebd.: 315, Hervorhebung ebd.

Sobchack 2004: 317.

Ebd.: 315.

Merleau-Ponty 1966: 7, Anmerkung d.

Waldenfels 2000: 74.

So lautet der Titel des 2003 erschienen Aufsatzes, der die Thesen und anschließende Diskuss­ion der Disputation (1946) von Merleau-Pontys Schrift zur Phänomenologie der Wahrnehmung enthält.

Merleau-Ponty 1966: 253, Hervorhebung ebd.

Vgl. Waldenfels 2000: 43, 285.

Merleau-Ponty 1986: 121, 181.

Vgl. Foellmer 2009: 19-20. Die Tanztheoretikerin Krassimira Kruschkova spricht u.a. in Bezug auf Le Roy von „bereits ‚klassisch‘ gewordenen Beispiele[n]“. Kruschkova 15.4.2011.

So etwa im grotesken Motiv des geöffneten Mundes. Ebd.: 232-254.

Publikumsgespräch mit Isabelle Schad und Laurent Goldring, 5. Juni 2009, Sophiensaele Berlin.

Entwickelt durch Bonnie Bainbridge Cohen ist mit dem Body-Mind Centering die Vorstellung eines ganzheitlichen Konzeptes verbunden, das den Körper nicht nur als mechanischen Bewegungsausführenden (besonders über Arme und Beine) versteht, sondern gesellschaftliche Bedingungen, persönliche Biographie und Verhaltens- sowie Bewegungsmuster mit bedenkt, um eine besseren Ausrichtung (alignment) des Körpers zu erreichen. Vgl. Sieben 2004: 37.

Beispielsweise in den Stücken des französischen, in Berlin lebenden Choreographen Frédéric Gies.

Siehe Anmerkung 19.

Debord 1996.

So beispielsweise Yvonne Rainer in ihrem „NO“-Manifest. Rainer 1974: 51.

Ich danke Gerald Siegmund für diesen Hinweis.

Mersch 2004: 75.

Žižek 2000: 14.

Ebd.: 19-20.